JEDER SPRITZER BIRGT DEN TOD

 

AUSSTELLUNG | EXHIBITION

BERLIN 2019 | Galerie GARTEN 114 | 19.-29. April

[Vernissage 18.04. 19-22 Uhr | Finissage 29.04. 19-22 Uhr]


Epilog

ENGLISH TRANSLATION BELOW

An einem längst vergangenen Nachmittag schaute Jan Scheirs eine Fernseh- Sendung des berühmten britischen Natur-Dokumentarfilmers Sir David Attenborough. Thema: Beobachtungen des Mini-Kosmos rund um einen typischen Gartenteich irgendwo in einem der unzähligen malerischen Gärten in den romantischen Landschaften Englands. Es ist ein heißer Sommertag – nichts scheint zu geschehen. Lediglich ein paar Libellen ziehen ihre ruhigen Kreise dicht über der stillen Wasseroberfläche. Plötzlich ein platschender Wasserspritzer – ein Fisch springt binnen einer Sekunde aus dem Teich und schnappt sich eine der Libellen. Attenborough kommentiert mit seiner ihm eigenen sonoren Stimme: „Every splash is a death! [Jeder Spritzer birgt den Tod] Jedes unschuldige Geräusch in dieser Stille kann den Tod eines Lebewesens bedeuten.“ Die Essenz des Lebens an sich: Nichts scheint zu sein, was es wirklich ist...

Teil 1

Die Worte Attenboroughs haben sich seitdem inspirierend in den Gedanken des Belgischen Künstlers Jan Scheirs manifestiert. Aber erst jetzt – viele Jahre später – finden sie Ausdruck zur bevorstehenden Berliner Kabinett-Ausstellung in der Galerie GARTEN 114*. Scheirs lädt dazu ein, die kritischen bis fatalistischen Ergebnisse seiner Analyse der Entwicklungen der globalen Gesellschaft zu entdecken.

„Nichts scheint zu sein, was es wirklich ist...“ Vielleicht war es immer schon so – doch der Künstler empfindet dieses stärker denn je. Die Menschheit scheint mehr und mehr süchtig nach Dingen, die unverzichtbar erscheinen: Zucker | Alkohol | Selfies | Medikamente | Sex | Drogen... usw. - digital ständig und überall abrufbar, immer gepriesen als „Die große Freiheit, die Dich glücklich macht!“. Aber – bemerkt noch irgendjemand den „Großen Fisch“ unter der Oberfläche, der uns beobachtet und folgt; jederzeit bereit, im richtigen Moment zuzuschnappen?! Bemerkt irgendwer die immer simpler und naiver werdenden Verhaltensweisen – den inneren Verlust der Menschlichkeit?! Wer will wirklich in einer Gesellschaft leben, in der das Individuum als Sklave seiner eigenen Lüste und einfachster Notwendigkeiten dahinvegetiert – orchestriert von künstlicher Intelligenz und Algorithmen?! Sind wir uns dieser Entwicklungen bewusst?! Bewusst des „Großen unsichtbaren Fisches“, der uns beobachtet?!

Teil 2

Die Berliner Ausstellung „Every Splash is a Death“ [frei übersetzt: „Jeder Spritzer birgt den Tod“] thematisiert in seinen Exponaten das Sterben der Seelen. Bewältigen wir tatsächlich das Tempo der Veränderungen auf allen Gebieten – und benötigen wir wirklich jede davon? Noch sind wir nicht „da“ - werden wir unser Schicksal akzeptieren, wenn es „zu spät“ ist?

Vor exakt 100 Jahren formierte sich unter anderem hier in Berlin eine große kulturpolitische Bewegung, die sich weltweit ausdehnte. Künstler aus allen Sparten, die sich anfangs fast zeitgleich vor allem in den bedeutendsten Metropolen Europas und New York formierten, verband das philosophische Begehren der grundsätzlichen Veränderung|Neuordnung auf allen Gebieten: die Bewegung der Avantgarde war geboren. Ihre Anhänger wollten nicht weniger als die Welt verändern. Heute – einhundert Jahre später – scheint es, als wären die meisten dieser Visionen Wirklichkeit geworden: Das Leben ist schneller und bequemer, Gebäude ragen höher und höher in den Himmel, Eisenbahnen, Autos und Flugzeuge brechen immer neue Geschwindigkeitsrekorde – wir scheinen reicher, gesünder und leben länger als jemals zuvor. Doch wurden wir glücklicher? Leben wir wirklich gesünder? Oder könnte es beispielsweise sein, das Nahrungsmittel- und Pharmaindustrien uns konstant krank machen, um den Einzelnen in Abhängigkeit zu Angebot, Nachfrage und Kauf zu halten... Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der „Westlichen Wertegesellschaft“ eine neue, glückliche Welt versprochen: Maschinen und Roboter würden bald schon aller Leben vereinfachen. Und nun erwischen wir uns selbst jeden Tag dabei, Zeit-fressende Updates, Einflussnahmen und Probleme genau der technischen Hilfsmittel zu bewerkstelligen, die unser Leben leichter machen sollten?!

Schlussendlich – künstliche Intelligenz ist Teil des Alltags geworden. Bereits kurz nach der Einführung sogenannter Algorithmen scheint es, dass diese bereits die Kontrolle über unseren Erfolg und Misserfolg übernehmen. Beherrschen wir wirklich noch selbst diese immer schnelleren Entwicklungen?! Es ist längst offensichtlich, wie viele Individuen geistig, körperlich und emotionell ermüden.

Bewegt sich die Menschheit unabwendbar auf eine selbst verursachte apokalyptische Selbst-Vernichtung zu, die selbst die Gräuel des ersten und zweiten Weltkrieges zusammen in den Schatten stellen könnte? Mehr und mehr von Allem lautet die stetige Forderung. Eine Flut von „Mehr“; niemand scheint das „Kleine“ mehr zur Kenntnis zu nehmen – und der Flut des „Mehr“ folgt abgestumpfte Langeweile. Plötzlich und unbemerkt: Jemand bricht zusammen – gerade ist eine Seele gestorben. Der „Fisch“ hat zugeschnappt.

Teil 3

Die bevorstehende Ausstellung kombiniert ältere und ganz neue Werke, die sich mit den „digitalen Einflüssen“ auf unser Denken und Handeln beschäftigen. Durch das Widerspiegeln typischer Elemente aus Expressionismus, Neuer Sachlichkeit und Avantgarde gelingt Jan Scheirs sein eigener unverkennbarer Stil. Der Künstler selbst bezeichnet sein Œuvre als „Nouveau Expressionniste Fauvisme“. Die Gemälde Scheirs zeichnen sich durch eine theatral-eklektische Motiv-Findung aus – oft mit direktem Bezug zu Fixpunkten der Kunstgeschichte.

Die erste Kabinett-Ausstellung in der Galerie GARTEN 114 versucht den Geist „Berlin 1919“ direkt mit dem Zeitgeist zu verknüpfen. Der Kurator bedient sich dabei des Mittels der intimen Atmosphäre der „Berliner Salons“ der „Goldenen Zwanziger“. Die gezielte Auswahl der Objekte umfasst Gemälde, Zeichnungen, Video und Skulptur. Zentrales Werk ist das epische Gemälde „Das Floß von Lampedusa|2015*2“. Der Künstler wird zur Eröffnung und während einer Reihe fester Termine anwesend sein.


Kontakt | Kurator: B. Althans info@servicewerk.com KÜNSTLER www.scheirs.com


HET VLOT VAN DE LAMPEDUSA

Das Floß von Lampedusa

Künstler: Jan Scheirs www.scheirs.com

Das Werk entstand 2015 als Teil des Kunst-Projektes „Alice im neuen Wunderland“ für die Ausstellung „Räume für Künstler“, die im gleichen Jahr in sechs auf dem Mechelsesteenweg | Antwerpen anliegenden Geschäften zu sehen war.

Das Motiv hat das Gemälde „Das Floß der Medusa“ des französischen Romantikers Théodore Géricault zum Vorbild. Es gehört [Acryl auf Leinwand; Format [B] 211 x [H] 170 x [T] 4,5cm] zu den epischen Arbeiten des Belgischen Künstlers.

INHALT

Vorbemerkung: Im Jahr 2015 erarbeitete Jan Scheirs in der Auseinandersetzung mit Zeit, Stress, Digitalisierung, Ego und Gesellschaft eine thematische Ausstellung mit dem Titel „Alice im NEUEN Wunderland“. Die Vorlage des erfolgreichen Romans von Lewis Carroll [Charles Lutwidge Dodgson] bot die Metaphern für die an Fabeln Fontanes erinnernden Bildkompositionen des belgischen Künstlers.

Im Frühjahr 2014 besuchte Jan Scheirs die große Géricault-Ausstellung
im Museum der schönen Künste Gent. Dort befasste er sich lange mit dem normalerweise im Louvre Paris hängenden Bild "Das Floß der Medusa".
In der Genter Ausstellung stellten die Kuratoren einen inhaltlichen Bezug der historischen Tragödie zum Tagesgeschehen her und verglichen das Schicksal der napoleonischen Soldaten mit dem der Flüchtlinge auf ihrer tragischen Reise in seeuntauglichen Booten nach Lampedusa. So entstand die Inspiration die modifizierten Werkes von Scheirs.

Durch die Verwendung froher kräftiger Farben und Vergabe der Rollen in der Szenerie an Fabelwesen gelingt es dem Künstler, einem dunklen Thema paradoxe Fröhlichkeit zu verleihen. Dem tiefgründigen und theatralischen Werk kann der Betrachter in seiner individuellen Analyse auf diese Art und Weise vielschichtige Interpretationen entlocken. Doch Scheirs provoziert auch die Entscheidung des "dafür" oder "dagegen" – ein Kompromiss scheint unmöglich.


Die Interpretation Scheirs bezieht sich auf das Kapitel II der Original-Geschichte: Nachdem Alice dem Kaninchen, dass pünktlich sein will, hinterher gejagt ist, fällt sie in einen Brunnen. Unten angekommen, kommt sie durch die Auswirkungen des Trinkens aus einer kleinen magischen Flasche und dem Abbeißen von einem Wunderkeks völlig in Stress [Stress: zentraler Terminus der verbindenden Bild-Inhalte der o.e. Ausstellung], denn der Zauber lässt sie abwechselnd riesig groß und/oder winzig klein werden. Schlussendlich fällt die winzig geschrumpfte Alice weinend in eine ihrer eigenen Tränen.

Nachdem Alice fast ertrinkt, kommt ihr eine Maus entgegen, mit der sie sich gemeinsam auf ein Floss rettet, auf der sich bereits allerlei andere Tiere befinden, darauf hoffend, das rettende Festland zu erreichen; unter ihnen ein Adler, eine Gans, ein Pferd, diverse Vögel.

Während einige der Schicksalsgefährten - wie etwa das Pferd - völlig erschöpft

mit dem Leben ringen, macht Alice ein Selfie mit ihrem Smartphone. [Eine deutliche Kritik an einer übertrieben nazistischen Gesellschaft, die es vermag, selbst in den unmöglichsten Momenten das eigene Ego in den Mittelpunkt zu stellen.] Am Rande des zerbrechlichen Floßes kreischt eine – der griechischen Mythologie entliehene – Sirene, um Alice zu locken: Die Analogie der Verführung durch mobile Smart-Geräte, uns abzulenken vom Wesentlichen des Lebens, um Schiffbruch auf den Klippen des Schicksals zu erleiden.

ANALYTISCHE INTERPRETATION | Beschreibung des Bildes durch den Kurator

[Auszug] Die zweite Ebene lässt uns erkennen, was den Künstler vielleicht nur durch unterbewusste Strichführung trieb: Hat sich nicht im Vordergrund eine Meerjungfrau gleich einer Sirene am Floß festgehakt, um mit ihren Versprechungen alle in den Abgrund zu ziehen? Und – ist das nicht der US-Adler, der sich zwischen den Schiffbrüchigen niedergelassen hat? Warum aber lässt er zu, dass sich eine Ratte auf ihm platziert und die Fahne nach dem Wind hängen kann.... Das Vorbild dieses Gemäldes von Géricault ist natürlich einzigartig und bewegend in seiner Zeit und unsterblicher Kulturwert bis heute. Die respektvolle Interpretation von Jan Scheirs aber gibt der Gegenwart ein Verstehen der Vielschichtigkeit des jeden in Europa bewegenden gegenwärtigen Dramas und

wird zum mahnenden Symbol der notwendigen Rettung.

By Servicewerk Berlin BBE 10.10.2015